Thomas Auchter
Verlorene Generationen?
Zur Psychoanalyse von Kriegskindern und Kriegsenkeln
Vortrag auf den 12. Aachener Friedenstagen
am 24. März 2011 im AachenFenster
»Ich der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott,
der die Schuld der Väter heimsucht bis ins dritte und
vierte Glied«
(2 Mos 20, 5)
1. Einleitung
► Grafik: Sportpalast
Ein Krieg beginnt, lange bevor der erste Schuss fällt, in den Köpfen und in den Herzen von Menschen. Und ein Krieg endet, wie wir heute wissen, lange nicht mit dem letzten Schuss, sondern belastet die Seelen der Menschen noch Jahre und Jahrzehnte danach (vgl. Bode 2009, 130). In der Weisheit der Bibel ist das vor tausenden Jahren so formuliert: »Ich der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott, der die Schuld der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied« (2 Mos 20, 5). Ich möchte die Problematik der Langzeitfolgen traumatischer Kriegserfahrungen aus psychologischer beziehungsweise psychoanalytischer Sicht am Beispiel der Deutschen nach dem II. Weltkrieg exemplarisch ein wenig mehr ins Licht rücken. Die Brisanz und Aktualität des Themas ›Kriegskindheit‹ wird daran deutlich, dass nach einem kürzlichen Bericht der UNESCO (2011) derzeit etwa 28 Millionen Kinder in Ländern mit bewaffneten Konflikten leben.
► Grafik: Reichstag
Gestatten Sie mir aber, mit einigen ganz persönlichen Bemerkungen zu beginnen.
Zur Welt gekommen bin ich 1948, drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, im ruinierten und brandgeschwärzten (West-)Berlin. Eindrucksvoll ist mir ein Zimmer im Mietshaus meiner Großeltern in der Hochstädterstraße in Erinnerung. In dem Zimmer stand, übersät von Staub und Trümmern, ein schwarzer Flügel. Das Zimmer im 2. Stock des Hauses hatte nur noch drei Wände, denn das Vorderhaus war durch eine Bombe abgerissen worden. Angstvoll starrte ich durch das Loch ins Freie.
► Grafik: Mein Vater als Soldat
Mein Vater war bei Kriegsbeginn als 19-jähriger Abiturient voller Idealismus (»Frauen und Vaterland gegen den bolschewistischen Feind verteidigen«) an die Front geschickt worden. Er war bei den Pionieren. Gleich bei seinem ersten Einsatz überlebten von den zehn Insassen des Pionierbootes nur er und ein anderer. Sein Krieg begann sofort mit einem tödlichen Trauma. Anfang 1943 wurde meinem Vater sein rechter Arm zerschossen und blieb zeitlebens verkrüppelt. Diese Verwundung hat ihm jedoch vermutlich das Leben gerettet, denn aufgrund dieser Verletzung wurde er mit einem der letzten Flugzeuge aus der ›Hölle von Stalingrad‹ ausgeflogen. Körperlich versehrt und seelisch desillusioniert kehrte er aus dem Krieg zurück. Seine Entscheidung, nach dem Abschluss seines Medizinstudiums, als einer der Ersten nach dem Krieg am Berliner Psychoanalytischen Institut eine Ausbildung zum Psychoanalytiker zu absolvieren, ist sicher mit motiviert von seinem bewussten und unbewussten Bemühungen um Reparation des verletzten Eigenen und des beschädigten Fremden.
Meine Mutter wurde bei der Eroberung Berlins durch russische Soldaten vergewaltigt. Meine Großeltern wurden bei Kriegsende beinahe erschossen, weil sie für die russischen Soldaten nicht genügend der geforderten Armbanduhren herbeischaffen konnten. Der jüngste Bruder meiner Mutter starb als 18-jähriger Soldat kurz vor Kriegsende schon auf dem Rückzug in der Nähe von Münster. Ich erinnere mich genau, als ich als 9-jähriger mit meinen Großeltern an die Nordsee fuhr, dass mein Großvater an einer Stelle aus dem Fenster zeigte und traurig erklärte, dass hier in der Nähe Onkel Walter begraben liege. Für meine Mutter war dieser Verlust dermaßen schmerzlich, dass sie es in ihrem späteren Leben nie fertig brachte, den Friedhof aufzusuchen. In den Achtzigerjahren war ich der Erste aus der Familie, der das Grab auf dem Soldatenfriedhof in Rheine besuchte. Trotz aller Feste, Freude und Vergnügungen, die es in unserer Familie auch gab, lag immer ein nicht fassbarer melancholischer Schleier über allem. Erst in fortgeschrittenem Alter konnte ich das mit den Kriegserfahrungen meiner Eltern und Großeltern in Verbindung bringen.
Ohne die Symbolik überstrapazieren zu wollen, passt dazu auch meine vermutlich allererste Erinnerung, ich war damals noch keine drei Jahre alt. Da ist mir nämlich im Hof unseres Hauses ein Spielzeugsoldat in den Gully gefallen und er war für immer verloren!
► Grafik: Mauerbau
Als Walter Ulbricht am 13. August 1961 die ›Mauer‹ bauen ließ, hatten meine Eltern von den ständigen Berlin-Krisen endgültig die Nase voll und wir zogen nach Freiburg im Breisgau um. Der schmerzliche Verlust meiner ›Heimat‹, von Verwandten und Freunden, im übrigen auch eine späte ›Kriegsfolge‹, erfüllte mich lange Zeit mit tiefer Trauer und starkem ›Heimweh‹.
Soviel zum persönlichen Hintergrund meiner Ausführungen.
► Grafik: Winterberg
»Fast jede deutsche Familie«, schreiben Michael Ermann und Christa Müller (2006, 61), »war auf die eine oder andere Weise in die Terrorherrschaft des Nationalsozialismus verstrickt: als Wähler, als Täter, Verfolgte oder Mitläufer, als Gewährende oder stumme Zeitzeugen. Einige wenige auch im Widerstand«.
Ebenso bemerkenswert wie aufklärungsbedürftig ist, wie viele Jahre, ja Jahrzehnte das Thema ›deutsche Kriegskindheit‹ und ihre Folgen nicht nur politisch und medial, sondern auch wissenschaftlich ›in der Latenz‹ verblieben ist. Michael Ermann (2004, 227) spricht vom »kollektiven dauernden Wegschauen«, Peter Heinl (1997, 32ff.)von der »Kriegsblindheit«. Erst in den letzten 10 Jahren, beinahe 60 Jahre nach Kriegsende, beginnen sich das Schweigen und die Sprachlosigkeit ein wenig aufzulösen.
2. Warum jetzt (erst)?
► Grafik: Warum erst jetzt?
Primo Levi, Überlebender von Auschwitz, schreibt in seinem Buch »Die Untergegangenen und die Geretteten« (1986, S. 19f.): »Die menschliche Erinnerung ist ein wunderbares, aber unzuverlässiges Instrument... Wer tief verletzt worden ist, neigt dazu, die Erinnerung daran zu verdrängen, um den Schmerz nicht erneuern; und derjenige, der diese Verletzung zugefügt hat, drängt seine Erinnerung in die Tiefe ab, um sein Schuldgefühl zu beschwichtigen«. Das aber bedeutet, dass Opfer genauso wie Täter um ihre traumatischen Erinnerungen ringen müssen. Ohne die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Opfern und Tätern nivellieren zu wollen, gibt es in der seelischen Verarbeitung von Traumatisierungen viele Vergleichbarkeiten (vgl. Ermann 2010, 333).
► Grafik: Das Vergangene...
»Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd« (Wolf 1977, 9). Mit diesen Worten beschreibt die 1929 geborene Schriftstellerin Christa Wolf den Umgang vieler Menschen mit der jüngsten Geschichte in der Nachkriegszeit – ihre langanhaltende ›Sprachlosigkeit‹. Dabei entfaltet vor allem die »Last des Schweigens«, wie der israelische Psychologe Dan Bar-On (1993) das nennt, der Traumatisierten ihre pathologische Macht über die Kriegskinder und Kriegsenkel.
Von den psychoanalytischen Interviewern, die mit von Kriegstraumatisierungen Betroffenen Gespräche geführt haben, wird die Schwierigkeit betont, zwischen ihrem Aufklärungsbedürfnis und dem Respekt vor der ›Selbstverborgenheit‹ der Traumatisierten, wie das Alexander Mitscherlich (1946) einmal nannte, die angemessene Balance zu finden. Also weder zum Inquisitor zu werden, noch durch übermäßige Zurückhaltung die Sprachlosigkeit zu perpetuieren.
Die damaligen Kriegskinder kommen mittlerweile zunehmend in ihre Altersphase und das Ende ihres Lebens wird absehbar. Der Psychoanalytiker Michael Ermann (2004, 228) formuliert dazu: »Wir können als Menschen offenbar nicht zur Ruhe kommen und nicht in Ruhe alt werden, wenn wir Kern und Ursprung unserer Geschichte, einer erschreckenden Geschichte, in uns abgespalten halten«.
3. Kritische Einwände und Grenzen
► Grafik: Kritische Einwände
Gegen die aktuelle psychohistorische Untersuchung der Langzeitfolgen traumatischer Kriegserfahrungen und ihrer Folgen bei den Deutschen und die verstärkte mediale Beschäftigung mit den deutschen Kriegserfahrungen werden verschiedene Einwände eingebracht (vgl. Radebold 2004, 21f.; Brockhaus 2010).
Die Zeit läge doch schon sehr lange zurück, Jahrzehnte, im vergangenen Jahrhundert. Lassen sich Einzelschicksale tatsächlich so verallgemeinern, dass ein Großteil der Geburtsjahrgänge davon betroffen ist? Ist es nicht zu weit hergeholt, heutiges Befinden und Krankheitssymptome mit so weit zurückliegenden Ereignissen in Beziehung zu setzen? Sollten man diese ›alten Geschichten‹ tatsächlich ›aufwühlen‹ oder sie nicht besser ›ruhen‹ lassen? Dürfen wir Deutsche angesichts des Leides, das wir über andere gebracht haben, uns überhaupt mit unserem eigenen Leid befassen (verbieten das nicht Schamgefühle und Schuldgefühle)?
Mittlerweile gibt es eine recht umfangreiche psychologische/psychoanalytische Literatur über die transgenerationale Wirkung der Judenverfolgung und Judenvernichtung in der Nazizeit bei den Opfern der Shoah, aber auch bei den Tätern (Bohleber 1998, 256ff.). Bis vor Kurzem gab es aber fast nichts über deutsche Kriegskinder!
► Grafik: Ustorf
Dem ›Boom‹ der Beschäftigung mit den Leiden der Deutschen in den letzten Jahren wird unter anderem kritisch die Frage entgegengesetzt, ob „die Konzentration auf die Kriegszeit und auf die unbestreitbar traumatischen Kriegserlebnisse es erleichtert, alle moralischen Fragen in Bezug auf die NS-Geschichte auszuklammern“, so Gudrun Brockhaus (2010, 320)? Und, ob die „Bearbeitung zeitparalleler deutscher Schicksale“ zu den Extremtraumatisierungen der Opfer der Shoah „als Aufrechnung missbraucht werden und zu einer Relativierung deutscher Schuld beitragen könnte“, so Harald Kamm (2010, 336f.), also der Schuldabwehr diene? Heißt denn wirklich, fragt dagegen der Wissenschaftsjournalist Holdger Platta (2004, 216), »von dem Leid der einen zu sprechen, das Leid der anderen vergessen zu machen?«.
Ohne Zweifel lassen sich eigene Leidens- und Opfergeschichten zur Abwehr der eigenen Täterschaft und Verantwortungsübernahme missbrauchen. Solche Opferkonstruktionen können wie der Sozialwissenschaftler Harald Welzer u.a. (2002, S. 82ff., 248) in ihrer Studie »Opa war kein Nazi« herausgearbeitet haben bis zur völligen Umkehrung der Täter - in die Opferrolle reichen. Dahinter und daneben dürfen jedoch meines Erachtens die tatsächlichen Leiden, insbesondere der weitgehend »unschuldigen« Kinder (vgl. Reddemann in Bode 2004, 284) nicht verlorengehen! »Eine Untersuchung der deutschen Kriegskindheit und ihrer Folgen«, schreibt programmatisch der Psychoanalytiker Harald Kamm (2010, S.337), »muss sich immer vergegenwärtigen, dass es nicht um eine Aufrechnung des Erlittenen gehen darf und kann«.
Darüber hinaus ist klar, dass eine Verengung des Blickes auf das Thema ›Traumatisierung‹ der Komplexität der Kriegskindheit in der Nazizeit natürlich niemals gerecht werden kann.
► Grafik: HJ Propaganda
Zum Beispiel hatten die Kinder und Heranwachsenden dieser Zeit „in ihren prägenden Jahren nichts anderes gekannt und oft nationalsozialistische Werte und Parolen verinnerlicht« (Stargardt 2008). Die Publizisten Yury und Sonya Winterberg (2009, S. 40ff.) beschreiben an detaillierten Beispielen, welche hohe seelische Bedeutung zum Beispiel das Tragen der HJ- oder BDM-Uniform für Kinder hatte:
► Grafik: HJ marschierend
»Jedes Jahr zum Geburtstag des Führers im April kommt es im ganzen Land zu einer pompös-schauerlichen Zeremonie. Der mehr oder wenige vollständige Jahrgang der zehnjährigen Jungen und Mädchen wird als Jungvolk und Jungmädel in die Reihen von Hitlerjugend und BDM aufgenommen. Zelebriert wird das als eine Art Geburtstagsgeschenk des deutschen Volkes an Adolf Hitler«(Winterberg u. Winterberg 2009, 40).
► Grafik: Zeltlager
Geschickt nutzen die Nazis die kindlichen und jugendlichen Bedürfnisse nach Selbstaufwertung zum Beispiel durch das Tragen der Uniform oder das Marschieren hinter der Fahne und die Bedürfnisse nach Gemeinschaftserleben wie Zelten und Lagerfeuer für ihre Zwecke aus.
► Grafik: Worum es eigentlich geht!
Darüber hinaus hat »das Tragen der HJ-Uniform in der Schule«, wie Winterberg u. Winterberg (2009, 57) vermerken, »einen angenehmen Nebeneffekt: Sie wirkt wie ein Schutzpanzer. Die Lehrer überlegen es sich dreimal, ob sie einen Pimpf in Uniform verprügeln, weil er die Hausaufgaben vergessen hat. Es könnte ihnen ja politisch ausgelegt werden«.
► Grafik: Mädchen fähnchenschwingend
»Die wenigsten Erwachsenen wagen es, ihre Kinder mit den eigenen kritischen Überzeugungen zu konfrontieren und damit Gefahr durch unvorsichtige Äußerungen und Denunziation heraufzubeschwören. So haben Schule und Jugendverbände im Dritten Reich freie Hand bei der Erziehung der Kinder« (Winterberg u. Winterberg 2009, 43).
Die Wirklichkeit zeigen die folgenden Bilder:
► Grafik: HJ – Kriegsrealität (5 Bilder)
Auch diese Aspekte gehören zur ›Kriegskindheit‹ in der Nazizeit. Und aufgrund dieser Erfahrungen sollten wir ganz wachsam sein, wenn die Bundeswehr zur Zeit verstärkt in die Schulen drängt, um junge Menschen für das ›Kriegshandwerk‹ in ihrer ›Freiwilligenarmee‹ anzuwerben.
Da ich hier heute Abend keine Vorlesungsreihe zum Thema zu Verfügung habe, sondern nur etwa 1 Stunde Vortragszeit, konzentriere ich mich Bewusstsein der Begrenzung wesentlich auf das Thema ›Kriegstrauma und Langzeitfolgen‹. Im Bewusstsein dieser Grenzen und der Vorläufigkeit bisheriger Erkenntnisse, möchte Ihnen nun einen knappen Überblick über wesentliche Aspekte der Thematik vermitteln.
4. Zu den Begriffen ›Kriegskinder‹ und ›Kriegsenkel‹
► Graphik: Zu den Begriffen Kriegskinder und Kriegsenkel
Der israelische Autor Nathan Durst (2010, 2989) beginnt seinen Artikel über die »Child Survivors der Shoah« mit dem Gedanken: »In Kriegen sind Kinder immer die Hauptleidtragenden, die leiden, ohne Worte dafür zu haben, und deshalb als Opfer meist vergessen werden«.
Wie werden die ›Kriegskinder‹ und die ›Kriegsenkel‹ wissenschaftlich definiert?
► Grafik: Bode: Kriegskinder
Einige Autoren beschränken die Definition der ›Kriegskinder‹ auf die Jahrgänge ungefähr von 1928/29 bzw. 1930 oder 1933 bis 1945, also genau dem Kriegsende. Gertraud Schlesinger-Kipp (2005, 77) betrachtet dies als einen sehr »willkürlichen Schnitt, weil es ja viele 46/47 Geborene gibt, die stark unter Kriegsnachwirkungen zu leiden hatten oder gar erst die nachgeborene Generation« (vgl. Ustorf 2010, 10). In den Untersuchungen werden diese Kriegskinder im übrigen auch schon als die ›2. Generation‹ bezeichnet. Es wird darauf verwiesen, dass nämlich diese ›Kriegskinder‹ oft wiederum Kinder von ›Kriegskindern‹ aus dem I. Weltkrieg sind (das wäre dementsprechend die ›1. Generation‹, also die Jahrgänge ungefähr 1910 - 1918).
► Grafik: Bode: Kriegsenkel
Als ›Kriegsenkel‹ werden dann die Kinder der 2. Generation, also die Jahrgänge zwischen 1955 und 1975 (Ustorf 2010, 12) oder bei anderen zwischen 1960 und 1975 (Bode 2010, 19) bezeichnet. Man nennt sie auch die ›3. Generation‹.
Bei diesen wissenschaftlich notwendigen ›Definitionen‹ würde ich als 1948, zweifelsfrei in der Nachkriegszeit Geborener und Aufgewachsener, mit der fragwürdigen ›Gnade der späten Geburt‹ (wie Helmut Kohl das nannte) ausgestatteter, durch alle Raster fallen. Ich wäre weder Kriegskind noch Kriegsenkel. Hier werden die Grenzen solcher wissenschaftlicher Definitionen sichtbar.
Die Sozialwissenschaftlerin Michaela Kötting (2008) schlägt deshalb im Anschluss an Gabriele Rosenthal eine andere Struktur der Generationenfolge vor.
► Grafik: ›Historische Generationen‹ (aus: Radebold et al 2008, 202).
Halten wir mit Sabine Bode (2009, 24) grundsätzlich fest: »Den Kriegsenkel gibt es nicht, genauso wenig wie das Kriegskind«. Bedeutsam ist, dass es altersspezifische Reaktionen auf Traumatisierungen (Betzendahl 2006, 125; Durst 2010!) gibt. Nicht alle Kriegskinder oder Enkel reagieren gleich, sondern »jeder Jahrgang [ist] in anderer Weise vom Krieg betroffen« (Schönfeldt 2006, 233 FN) und »es handelt sich in Wahrheit um mehrere Generationen« (Bode 2004, 16).
Da die seelischen Strukturen von Eltern und Kindern eng mit einander verwoben sind, ist es zum Verständnis der ›Kriegsenkel‹ unumgänglich, zunächst die ›Kriegskinder‹ als deren Eltern (und vielleicht noch deren Eltern, die ›Kriegskinder‹ des I. Weltkrieges) in den Blick zu nehmen.
Zu den potentiell traumatisierenden Erfahrungen von Kriegskindern gehören vor allem: Bombenangriffe, Gewalterfahrungen, Trennungen und Verluste, Flucht und Vertreibung, Hunger und Kälte (vgl. Ustorf 2010, 10).
► Grafik: Grab von Willi Kuba (aus Winterberg u. Winterberg 2009, 101).
Eine spezielle traumatisierende Erfahrung stellen die ›Kinderlandverschickungen‹ dar. Bis zum Kriegsende wurden rund 2,5 Millionen Kinder aus den bombardierten Städten in ländliche Gebiete evakuiert.
»Der neunjährige Karlheinz Kuba ist in einem Kinderheim in Reichenstein, als ihn die Heimleiterin zu sich ruft. Sie müsse ihm eine traurige Mitteilung machen. Sein Vater sei gefallen. Der Junge bricht in Tränen aus. Die Heimleiterin wird ärgerlich. Der Vater sei für Deutschland in den Heldentod gegangen, da müsse der Junge doch stolz auf ihn sein. Doch Karlheinz kann sich in seiner Verzweiflung nicht beruhigen. ›Was soll das?‹, fährt in die Leiterin an. ›Ein deutscher Junge weint nicht‹« (Winterberg u. Winterbertg 2009, 100).
Rosemarie Erdmann erzählt: »Man durfte auch nicht in einer Zeitung in die Annonce schreiben: ›In unendlichem Schmerz‹. ›In stolzer Trauer‹ oder ähnlich musste es lauten. Ich habe nie eine Frau weinen sehen, im ganzen Krieg nicht. Das war eben ein Heldentod, den der Sohn oder der Vater oder der Bruder erlitten hat« (Winterberg u. Winterberg 2009, 103).
Nun wird uns ein Zeitzeuge etwas von der damaligen Realität vermitteln.
► Grafik: Kube 1
► Erster Beitrag von Johannes Kube: »Alarm – Kinder schnell in den Bunker!«
5. Sprachlosigkeit: Unfähig zur Kommunikation
► Grafik: Sprachlosigkeit
Als wesentlichstes Charakteristikum der Nachkriegszeit werden immer wieder die Sprachlosigkeit, das Schweigen hervorgehoben.
In den ersten Jahren nach dem Krieg war man in Deutschland vor allem mit dem Überleben und dann dem Wiederaufbau beschäftigt, was in der Bundesrepublik schließlich ins sogenannte ›Wirtschaftwunder‹ mündete. Über persönliche Kriegserfahrungen, die mit allen möglichen ›unerträglichen‹ Gefühlen kontaminiert waren, wurde in der Regel nicht gesprochen. Nichtsdestotrotz waren sie für die sensiblen Antennen der Kinder unbewusst ›spürbar‹. Wir dürfen annehmen, schreibt dazu Sigmund Freud schon (1912-13a, 191), »dass keine Generation imstande ist, bedeutsamere seelische Vorgänge vor der nächsten zu verbergen«.
► Grafik: Mutter und Kind (Picasso)
Das Erleben dieser Sprachlosigkeit verbunden mit dem feinfühligen Spüren und Ahnen, dass es da etwas ›Unausgesprochenes‹ gibt, zwang die Kinder dazu, sich ihren eigenen Reim darauf zu machen. »In einer Art Rollenumkehr wird versucht, sich in die Elterngeneration einzufühlen, um deren nichtmitgeteilte Geschichte zu erfahren und eine Vorstellung davon zu entwickeln, wer jene wirklich seien« (Kamm 2010, 343). Eine kindliche Möglichkeit der Selbsterklärung bestand darin, sich selber als Verursacher des ›Unsagbaren‹ anzusehen. Ich habe das an anderer Stelle einmal als den »Mythos der eigenen Bosheit und Wertlosigkeit« (Auchter 1982, S. 159f.) bezeichnet. Die Entwicklung eines solchen ›Mythos der eigenen Schlechtigkeit‹ macht das ›Unerklärliche‹ zumindest verständlicher. Um der phantasierten eigenen Schlechtigkeit entgegenzuwirken, wird sich das Kind dann unbewusst kompensatorisch bemühen, ›besonders gut‹ zu sein. Auf diese Weise kommt es zu der Vielzahl braver, angepasster, unauffälliger und ›pflegeleichter‹ Kinder der Nachkriegszeit. »Ich musste immer nur funktionieren«, sagt eine von ihnen (Schönfeldt 2006, 244). Michael Ermann (2004, 228) bezeichnet die Kriegskinder als die »Generation der Unauffälligen« (Bode 2004, 30) und Matthias Franz (2006, 78) spricht von ihrer »Scheinnormalität«.
In ihrem Buch »Politik und Schuld« stellt die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan (1997) die Hypothese auf, der verbreitete seelische Immobilismus führe zu »politischem und sozialem Immobilismus und Provinzialismus« (Schwan 1997, 205f.). »Namentlich auf die Bereitschaft und die Fähigkeit, im Persönlichen wie im Politischen Empathie zu empfinden, Selbst- und Fremdvertrauen zu entwickeln und Verantwortung zu übernehmen, hat das Beschweigen der Schuld zerstörerisch gewirkt« (Schwan 1997, 73). Die Regisseurin Margarethe von Trotta (1981) hat ihrem Film den dazu passenden, trefflichen Titel »Die bleierne Zeit« gegeben.
6. Nachkriegserziehung: ›Gelobt sei, was hart macht‹
► Grafik: Nachkriegserziehung
Der bewusste aber vor allem unbewusste Einfluss der NS-Pädagogik hat noch Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches nachgewirkt.
Der Vater einer meiner Analysandinnen war eine höhere SS-Charge. Als bei einem Heimaturlaub des Vaters seine Tochter wegen der Bombenangriffe nicht schlafen konnte, stellte er ihr ›zu ihrer Sicherheit‹ sein Gewehr neben ihr Bett. Sie können sich vielleicht vorstellen, dass diese Aktion ein ›Schuss in den Ofen war‹. Denn meine Analysandin hatte nun noch mehr Angst.
► Grafik: Haarer 1
1934 erschien das Erziehungs- und Propagandabuch der Ärztin Johanna Haarer »Die deutsche Mutter und ihr erster Kind« zum ersten Mal. Das Werk erreichte binnen Kurzem enorme Auflagenzahlen. Bis 1945 stieg die Auflage auf 690.000 Exemplare an (Ustorf 2010, 32). Unter dem leicht veränderten Titel »Die Mutter und ihr erstes Kind« wurde das Buch auch nach dem Krieg weiter gut verkauft. Bis in die 1960er Jahre wurde in vielen deutschen Krankenhäusern noch Säuglingspflege nach Haarer betrieben. Die letzte Auflage ihres Buches erschien 1987!
► Grafik: Haarer 2
»Hauptanliegen Haarers war, dem Kind seinen Willen zu nehmen, es den Eltern und allen weiteren Autoritäten gefügig zu machen und physisch und psychisch abzuhärten« (Ustorf 2010, 32). Dazu propagierte sie zum Beispiel, dass Mutter und Kind unmittelbar nach der Entbindung in getrennten Zimmern untergebracht werden sollten, das Neugeborene alleine in einem abgedunkelten Raum, und erst 24 Stunden nach der Geburt zum ersten Mal die Brust bekommen sollte. Das Schreien des Kindes sollte ignoriert werden, damit es nicht zu einer ersten Verzärtelung komme. Auch sollte das Baby nur zu genau bestimmten Zeiten gestillt oder gefüttert werden.
Das ist nicht nur ›schwarze‹, sondern ›tief-schwarze Pädagogik‹!
► Grafik: Haarer 3
Und das alles, obgleich es bereits in den 20er Jahren Frauenkliniken mit Rooming-in und Dissertationen zur Notwendigkeit des Stillens gleich nach der Geburt gab (Bode 2004, 151). »Lange bevor die Nazis an die Macht kamen, war also schon viel über das Entstehen oder Verhindern der Mutter-Kind-Bindung nachgedacht worden« (Bode 2004, 151). Sabine Bode (2009, 252) macht darauf aufmerksam, dass die gemeinsame Unterbringung von Mutter und Kind für Geburtsmediziner offenbar lange Zeit dermaßen fremd war, dass sie dafür ein englisches Wort ausleihen mussten: »rooming in«.
Wie wir durch die Untersuchungen der modernen Bindungsforschung wissen, wurden auf diese Weise massenhaft frühe ›Bindungsstörungen‹ in die Welt gesetzt! (vgl. auch Bode 2009, 252f.). »Wenn inzwischen die Scheidungsraten an die 50% heranreichen, so ist darin ein weiterer kriegsbedingter Faktor zu vermuten, und zwar durch eine bleibende, geringe Frustrationstoleranz, die üblich ist bei frühgestörten Kindern« (Betzendahl 2006, 133).
7. Fühllosigkeit: ›Sei doch vernünftig‹, oder: ›Du sollst nicht fühlen!‹ – mehr als die ›Unfähigkeit zu trauern‹
► Grafik: Fühllosigkeit
Neben dem Bemühen um Verdrängung der Traumatisierungen ist die ›Fühllosigkeit‹ der Kriegskinder wohl auch eine Nachwirkung des »in der NS-Erziehung zutiefst eingeprägten unkritischen Funktionierens, Anpassens und Leistens« (Schönfeldt 2006, 234). Man war nicht nur ›Unfähig zum Trauern‹, wie die Mitscherlichs (1967) meinten, sondern verbreitet waren alle ›weichen‹ Gefühle verpönt. Zum Teil ist das wohl auch noch eine Nachwirkung der Infiltration mit den Naziidealen: ›Gelobt sei, was hart macht‹.
»Nicht nur Gefühle von Traurigkeit und Verzweiflung waren verpönt, sondern ebenso Gefühle von Wut, Ärger, Vorwürfen als auch von Vergnügtheit und Glück« (Radebold 2004, 25). Da niemand den Kindern bei der Bearbeitung und Bewältigung ihrer Affekte zur Seite stand, mussten sie ihr gefühlsmäßiges Erleben in sich abkapseln (Ermann 2010, 327) und es kam zu einer mehr oder weniger weitgehenden »emotionalen Erstarrung« (Ermann 2010, 326). Das mag ein Beitrag dazu geleistet haben, dass Menschen »über Jahrzehnte in der Mehrzahl eben nicht das Gefühl hatte, etwas besonders Schlimmes erlebt zu haben. Denn es fehlte ihnen der emotionale Zugang zu diesen Erfahrungen« (Bode 2009, 25, 2004, 17, 19).
»Die emotionalen Defizite vieler Kriegskinder prägten auch die dritte Generation« (Ustorf 2010, 92), also die Enkel. In der Folge kommt es auch bei vielen von ihnen zu »emotionalem Analphabetentum« (Harald Gründel, zit. n. Ustorf 2010, 92) oder »emotionaler Sprachlosigkeit« (Ustorf 2010, 93). »Meine Mutter konnte nichts geben, und es ist immer noch kalt, wenn ich nach Hause komme« (Schönfeldt 2006, 244). Hans Jürgen Wirth (2006, 292) spricht als Folge von einer »Panzerung gegen Gefühle überhaupt«.
Die ›verordnete‹ Gefühlsunterdrückung führt zwangsläufig zu einem Gefühlsstau. Der daraus resultierende affektive Überdruck kann dann bei passender oder eher unpassender Gelegenheit völlig ›unverständliche‹ Gefühls›ausbrüche‹, wie Wutausbrüche oder Jähzornsausbrüche begründen.
Könnte es sein, dass die ›Unfähigkeit zu leiden‹ schließlich auch zu einer ›Unfähigkeit zum Mit-Leiden‹ geführt hat und insofern zur ›Unfähigkeit zu trauern‹ beigetragen hat?
► Grafik: Unfähigkeit zu trauern
Die Hauptthese von Alexander und Margarete Mitscherlich (1967, 58) in ihrem Buch »Die Unfähigkeit zu trauern« ist: die »Hypothese, dass wir in Massen einer Melancholie verfallen wären, wenn wir die Realität, wie sie war, zur Kenntnis genommen hätten«. »Statt einer politischen Durcharbeitung der Vergangenheit als dem geringsten Versuch der Wiedergutmachung vollzog sich eine explosive Entwicklung der deutschen Wirtschaft« (1967, 23), die im sog. ›Wirtschaftswunder‹ gipfelte.
»Jahrzehntelang waren viele Kriegskinder mühsam damit beschäftigt, sich wieder eine Existenz aufzubauen. Dabei galt oft die Parole: Fleißig und sparsam sein und nur nicht auffallen. Die 1950er, 1960er und bisweilen auch noch die frühen 1970er Jahre waren dominiert vom Wideraufbaugedanken: Häuser mussten gebaut, Wohnungen gekauft, Autos bezahlt, Familien gegründet und Kühlschränke gefüllt werden – alles Bollwerke gegen die bedrohlichen Verlust- und Mangelerfahrungen aus der Kindheit« (Ustorf 2010, 69). So konnten sie und ihre Familien »nie zur Ruhe kommen«.
8. Heimatverlust
► Grafik: Heimatverlust
Das »nie zur Ruhe kommen« wird besonders an den Heimatvertriebenen spürbar. Etwa 14 Millionen Deutsche oder Deutschstämmige waren zwischen 1944 und 1950 von Flucht und Vertreibung betroffen (Ustorf 2010, 42). Ihre schwierige Integration in ›Neue Heimaten‹, in denen sie nicht selten unerwünscht waren, ließ häufig zum Aufarbeiten der Trauer und Verlusterfahrungen keine Zeit.
1965 kauften meine Eltern ein Haus in einer ›Flüchtlingssiedlung‹ bei Freiburg mit dem passenden Namen ›Königsberg‹erstraße. Unsere Nachbarn hießen zum Beispiel: Waschki, Jenschmischek, Koslowski und Jauanek.
Das unbewältigte Trauma des ›Heimatverlustes‹ führt nicht selten noch in der Generation der Kriegsenkel zu einem tiefsitzenden Gefühl der ›Heimatlosigkeit‹ und einer Unfähigkeit, irgendwo Wurzeln zu schlagen (Ustorf 2010, 43), manchmal unbewusst. Oft haben solche Menschen das Empfinden, nirgendwo Geborgenheit finden zu können oder nie irgendwo ›ankommen‹ zu können, nie »festen Boden unter die Füße« zu bekommen (Bode 2009, 21). »Seither fühle ich mich nirgendwo mehr zu Hause« meint Frau A. (Leuzinger-Bohleber 2003, 990). »Ein Trauerprozess der Eltern«, schreibt der Psychoanalytiker Bertram von der Stein (2008, 188), »fand nicht statt. Ambivalente Gefühle werden samt Schuldgefühlen an die Kinder delegiert, besonders dann, wenn bei den Eltern eine Mischung aus Täter- und Opferanteilen vorhanden ist«.
9. Vaterlosigkeit
► Grafik: Vaterlosigkeit
Der Begriff ›Vaterlosigkeit‹ ist besonders durch das Buch von Alexander Mitscherlich (1963): »Die vaterlose Gesellschaft«bekannt geworden. Ironischerweise spielt in dem 1963 erschienenen Buch die reale Vaterlosigkeit durch Tod oder Kriegsgefangenschaft des Vaters fast keine Rolle!
► Grafik: Vaterlose Gesellschaft
Programmatisch schreibt Alexander Mitscherlich (1963, 343) – und ich stimme dem zu - »in der Kindheit kann ein Leben ohne väterliches Vorbild ebenso wenig wie eines ohne Nähe der Mutter folgenlos ertragen werden«. »Den Vater kann man bewundern; man kann bei ihm geborgen sein oder ihn fürchten – schließlich ihn missachten... Vom Vater kann man lernen« (Mitscherlich 1963, 175). Mitscherlich setzt sich aber nicht nur mit der Vaterlosigkeit, sondern ebenso mit der ›Mutterlosigkeit‹ (Mitscherlich 1963, 77ff.) beziehungsweise der ›Elternlosigkeit‹ des Menschen auseinander. Die ›Elternlosigkeit‹ führt beim Kind zu Gefühlen von Verlorenheit und Einsamkeit, Unzufriedenheit und Unglücklichsein, Ängsten und psychosomatischen Symptomen (Mitscherlich 1963, 77). Und in der Folge zu einer »ungezügelten Aggressivität, Destruktivität, Ansprüchlichkeit, [und] mitmenschlicher Indifferenz« (1963, 206). »Das Leiden in dieser Grundstimmung kann man mit dem Wort ›Kaspar-Hauser-Komplex‹ anzudeuten versuchen« (1963, 203).
Die ›Kriegskinder‹ mussten schon in der Kriegszeit 1939 – 1945 über längere Zeiträume auf die Anwesenheit des Vaters verzichten, da die meisten Männer im Krieg waren. Je jünger die Kinder sind, umso stärker wirkt sich eine solche Trennungserfahrung aus!
Diese Bemerkungen erhalten ihr Gewicht durch die Tatsache, dass »ungefähr ein Viertel aller Kinder... nach dem Zweiten Weltkrieg auf Dauer ohne Vater auf[wuchs]« (Radebold 2008, 176). Die gefallen und vermissten deutschen Väter »hinterließen mehr als 1,7 Millionen Witwen, sowie fast 2,5 Millionen Halbwaisen und Vollwaisen« (Radebold 2008, 176).
Matthias Franz (2006, 71f.) beschreibt vier seelische Entwicklungsschritte, »bei denen die emotionale Präsenz eines fürsorglichen und empathischen Vaters für die Entwicklung des Kindes von großer Bedeutung ist. Direkt nach der Geburt kann der Vater die Mutter dabei unterstützen, eine sichere Bindung zum Säugling herzustellen, indem er die Mutter entlastet... Darüber hinaus wird der Vater schon sehr früh und bereits vom Säugling als von der Mutter unabhängige und besondere Person wahrgenommen... Diese separative Funktion des Vaters unterstützt gerade auch die dann folgende Autonomieentwicklung des Kindes... Schließlich kann der Vater in den späteren Entwicklungsstadien der Konsolidierung der sexuellen Identitäts- und Rollenfindung die Entwicklung des Kindes fördern«. »Auch für die Entwicklung und Festigung der sexuellen Identität des Mädchens ist... die kindgerechte Begleitung und Wertschätzung durch den Vater von hoher Wichtigkeit« (Franz 2006, 72).
Das tatsächliche oder psychische Fehlen der Väter verhinderte für die Söhne eine »geschlechtsspezifische Identifikationsmöglichkeit und eine Überkreuzidentifizierung für die Töchter« (Radebold 2008, 178). »Insgesamt mangelte es für Söhne und Töchter damals und in Konsequenz an einem ›anfassbaren Modell Mann‹ – im positiven Fall zur Orientierung, im negativen Fall zur Abgrenzung« (Radebold 2008, 178).
Das Bild des Vaters als Mann wurde in solchen Fällen nur über die Mutter und/oder Familie vermittelt und war nicht selten idealisierend überzeichnet (Radebold 2008, 178; vgl. Franz 2006,78). Patienten berichteten mir von so etwas wie ›kleinen Altären‹ um das Foto des Vaters in der Wohnung, die ständig da waren, besonders aber an Geburtstagen des Vaters zur Geltung gebracht wurden. Die ›unvollständige Familie‹ wurde, da sie massenhaft vorkam, als Norm erlebt (Radebold 2008, 179).
»Aus heutiger Sicht erscheint es zumindest vorstellbar, dass die ideologisch überformte Suche der 68-Bewegung nach idealisierten Ersatzvätern auch mit den fehlenden eigenen Vätern und der tiefen Enttäuschung über die kriegstraumatisierten Nachkriegsväter in Verbindung zu bringen ist« (Franz 2006, 78).
► Grafik: Kube 2
Wir hören nun einen zweiten Beitrag unseres Zeitzeugen Johannes Kube.
► Zweiter Beitrag von Johannes Kube: »Briefe vom Vater«
Neben der realen oder psychischen ›Abwesenheit‹ der Väter, wird das Bild der ›Nachkriegsmütter‹ in den Erzählungen vielschichtig dargestellt. Einerseits mussten viele von ihnen ›männliche‹ Funktionen übernehmen und erscheinen deshalb einerseits ›dominant und selbständig‹ (Radebold 2000, zit. n. Schlesinger Kipp 2004, 80, Schönfeld 2006, 234). Das wird eindrucksvoll in dem Film »Das Wunder von Bern« von Sönke Wortmann (2003) dargestellt. Die von Gertrud Schlesinger-Kipp (2004, 80) dargestellten Frauen erscheinen jedoch eher »schwach und schutzbedürftig« und benötigten ihre Kinder als Partnerersatz oder drängten sie in eine sogenannte ›Parentifizierung‹, sodass die Kinder ›Mutter der Mutter‹ sein mussten (vgl. Leuzinger-Bohleber 2003, 994; Bode 2010, 30). Womöglich zeigt dieser Widerspruch aber auch zwei Seiten derselben Medaille: nach außen mussten die Mütter funktionieren, im Innern blieb ihre bedürftige Seite unerfüllt (vgl. Bode 2010, 12). Dieses ›Funktionieren‹ spiegelt sich dann häufig im Äußeren der Kriegsenkel, während auch bei ihnen wohl die Bedürfnisseite unbefriedigt blieb?
Insbesondere einzigen oder erstgeborenen Söhnen war eine durch den Vater mögliche angemessene Ablösung von der Mutter erschwert, sodass daraus oft eine enge, symbiotische und lebenslange Muttergebundenheit resultierte (Radebold 2008, 179).
Sowohl die Söhne, aber auch die Töchter befanden sich »lebenslang auf einer eher unbewussten Suche nach brauchbaren, sie akzeptierenden und anerkennenden [männlichen] Vorbildern« (Radebold 2008, 181). Als Konsequenz konnten bei den ›Kriegskindern‹ »die Entwicklungsaufgaben des jüngeren und mittleren Erwachsenenalters, nämlich die einer intimen sowie stabil und verlässlich gestalteten Partnerschaft und die einer Elternschaft teils gar nicht, teils nur eingeschränkt und teils nur stark verunsichert angegangen werden« (Radebold 2008, 181). Auf diesem Wege könnte die Vaterlosigkeit schließlich unbewusst zur Kinderlosigkeit der ›Enkel‹ geführt haben? Weil diese bei ihren Eltern eine nur mangelhafte Vorbereitung auf die eigene Elternschaft erlebt haben?
10. Haltlosigkeit: Kinder in der Holding- und Container-Funktion (›Parentifizierung‹)
► Grafik: Haltlosigkeit
Die Konzepte der unbewussten ›Rollenzuweisung‹ von Eltern an Kinder, beziehungsweise der unbewussten ›Delegation‹ von Konflikten und Erwartungen an sie wurden von dem Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter (1963, 1972) und dem Familientherapeuten Helm Stierlin (1980, 1982) beschrieben. Insbesondere in den Eltern ›ungelöste‹ und ›unbewältigte‹ Krisen, Konflikte und Traumata werden unbewusst an die nächste oder die nächsten Generationen (Kinder und Enkel) seelisch weitergegeben.
»In einer Art Rollenumkehr wird [von den Kindern] versucht, sich in die Elterngeneration einzufühlen, um deren nichtmitgeteilte Geschichte zu erfahren und eine Vorstellung davon zu entwickeln, wer jene wirklich seien« (Kamm 2010, 343). »Dazu bekamen diese Kinder/Jugendlichen sowohl eine Container- als auch ein Holding-Funktion für diese Erfahrungen, das erlebte Leid und den durchlittenen Schrecken ihrer Eltern oder Großeltern« (Radebold 2004, 26; Radebold 2008, 179; Ermann 2010, 328).
Eine meiner Analysandinnen berichtet, dass sie die Einzige aus der Familie war, die ihrem Großvater zuhörte, wenn er vom Krieg erzählen wollte. Obwohl er versucht hatte, unschuldig zu bleiben und vier Jahre in einem Kriegsgefangenenlager ›büßte‹, quälten ihn offenbar so starke unbewusste Schuldgefühle, dass er seiner Enkelin immer wieder erzählen musste, wie versucht hatte, niemand zu töten, einen Schießbefehl nicht auszuführen und dabei Todesängste erlitt.
Katja, eine der von Anne Ustorf (2010, 87f.) Interviewten vermerkt: »Ich glaubte meine Eltern trösten zu müssen... Irgendwie fühlten wir uns immer schuldig, wenn meine Mutter weinte... Ich versuchte sie zu stützen, indem ich mich stets als sonniges und quirliges Kind präsentierte«. Das »fröhliche Kind« sollte einerseits zur Abwehr der eigenen (kindlichen) Trauer dienen. Andererseits stellte das »Fröhlichsein« einen - in der Regel vergeblichen - unbewussten Versuch des Kindes dar, die depressiven Mütter (Leuzinger-Bohleber 2003, S. 997ff.) und die geschlagenen Väter (a.a.O. S. 995) aufzuheitern. »Das Schlimmste, was passieren konnte«, sagt einer, war, »Enttäuschungen verursachen« (Bode 2003, S. 113). »Doch dieses kollektive Nach-vorne-Schauen war nicht gesund optimistisch. Es hat etwas von Denk- und Fühlverbot« (Lorenz 2003, S. 292).
Vielfach wurde »Sehnsucht nach Wiederherstellung vorgeblich heiler und stabiler Familien- und Beziehungswelten an die junge Generation (das heißt an die ›Kriegskinder‹) [aber vielleicht auch an deren Kinder, die ›Kriegsenkel‹ T.A.; vgl. Bode 2009, 69] delegiert« (Fooken 2006, 87). Und diese waren damit überfordert.
Agnes, eine andere der von Anne Ustorf interviewten Frauen, berichtet: »Schon als Kind hatte ich das Gefühl, mich um meine Mutter kümmern zu müssen... Weil sie alleinerziehend war und es ihr oft nicht gut ging. Es war ein umgedrehtes Verhältnis. Ich meinte die Verantwortung für uns tragen zu müssen« (Ustorf 2010, 56; vgl. Bode 2009, 30, 195f.). Ein anderer: »Ich hatte den Eindruck, für meine Eltern verantwortlich zu sein, dafür sorgen zu müssen, dass meine Mutter gute Laune hat« (Ustorf 2010, 74). »Ich musste ganz bald für sie sorgen, sie war wie ein Kind«, sagt eine andere (Schönfeldt 2006, 244). Eine Patientin von Charlotte Schönfeld (2006, 249f.) sollte als »›Goldkind‹ die elterliche Krise heilen. Sie sei von Anbeginn das Trösterchen für ihre Mutter gewesen; diese sei – von früh bis sie auszog – immer zu ihr ins Bett gekrochen, wenn es ihr nicht gut ging«.
»In unserer Familie musste immer alles gut sein, wir sollten fröhliche und glückliche Kinder sein. Schon als Kind spürte ich, dass unsere mühsam aufrechterhaltene Familienbalance durch unerwünschte Gefühle wie Angst oder Traurigkeit leicht aus dem Gleichgewicht geraten konnte – von Wut ganz zu schweigen«, schreibt die Autorin Anne-Ev Ustorf (2010, 37).
Diese Kinder wussten so nicht zu unterscheiden, »schützt die Mutter mich oder schütze ich die Mutter«, sie mussten »für die Mutter mütterliche Funktionen übernehmen« (Heidi Bertenrath zit. n. Hardt 2004, 170f.). Diese Umkehrung, die Übernahme der Elternfunktion für die Eltern, wird in der Familientherapie als »Parentifizierung« bezeichnet, in der das Kind unbewusst quasi zum ›Vater des Vaters‹ oder der ›Mutter der Mutter‹ wird (vgl. Radebold u.a. 2008, 8).
11. Existentieller Sicherheitsverlust: ›Sicherheit zuerst!‹
► Grafik: Sicherheit zuerst!
Durch die bei vielen Kriegskindern (und ihren Eltern) lange Zeit dominierenden Gefühle von ständiger Bedrohung, Angst und Schrecken wurde das grundlegende Sicherheitsbedürfnis und Sicherheitsempfinden in vielfältiger Weise gestört oder zerstört. Kompensatorisch stand dann nach Kriegsende das Begehren nach Sicherheit, Stabilität und Kontinuität ganz oben auf der Agenda. Das kann sich auch als »verbohrtes«, zwanghaftes Verhalten manifestieren oder als »extremes Misstrauen« (Bode 2009, 20). Das wird in den Interviews mit den Kriegskindern oder deren Kindern immer wieder deutlich betont (vgl. Bode 2009, 18). Monika erzählt von ihre Mutter, einem »Flüchtlingskind«: »Sie vermeidet jede Veränderung in ihrem Leben« (Bode 2009, 79).
Ich erinnere mich, dass unter dem Bett meines Vaters immer so eine Art Gummiknüppel lag, der einen Schutz gegen ›Einbrecher‹ darstellen sollte. Ich denke heute, dass die ›Einbrecher‹ auch aus seinem Unbewussten kommen konnten. Ich vermute, dass er in mir als Kind mit dem Knüppel eher Angst ausgelöst hat, statt sie zu vermindern.
► Grafik: Keine Experimente!
»Was mögen die Kriegskinder in den Augen ihrer Mütter gefunden haben?«, fragt die Kinder- und Jugendlichentherapeutin Charlotte Schönfeld (2006, 238). Und sie antwortet: »In der Realität des Krieges werden viele Säuglinge in den Augen ihrer Mütter auch das Entsetzen gesehen haben, wenn die Mutter die Nachricht vom Umgebracht-Werden oder ›Gefallen-Sein‹ des Vaters bekommt, oder die Entwürdigung nach Vergewaltigungen oder die unendliche Angst bei Bombenangriffen oder vielleicht auch die mehr oder weniger bewusste Scham, wenn sie die Misshandlung der Juden sah« und »auch das verdrängte Entsetzen der Mütter bzw. Eltern« (Schönfeld 2006, 239). »Wo konnten die Kinder mit ihren vielfältigen Gefühlen, eigenen Ängsten bleiben und mit ihrem Erschrecken vor allen Grausamkeiten, vor Tod und Mord usw.?« (Schönfeld 2006, 240), wenn im Blick der Mutter keine empathische Spiegelung erfolgte, die es dem Kind ermöglicht hätte, sich in den Augen der Mutter zu orientieren, sondern stattdessen eine Verdoppelung von Angst und Entsetzen? Solche Ängste lassen manche Menschen ihr Leben lang nicht mehr los!
Entsprechend lautete in der Nachkriegszeit 1957 ein Werbeslogan der Adenauer-CDU: »Keine Experimente!«.
► Grafik: Kube 3
Wir hören nun einen dritten Beitrag von Johannes Kube.
► Dritter Beitrag von Johannes Kube: »Gekochte Steine essen«
12. Vergewaltigungen
► Grafik: Vergewaltigungen
»Historiker gehen heute von insgesamt 2 Millionen deutschen Vergewaltigungsopfern aus« (Ustorf 2010, 108; Bode 2004, 112). »Allein in Berlin [wurden] in den Monaten April bis Juni 1945 mindestens 100.000 Frauen vergewaltigt« (Ustorf 2010, 107). Die im Jahre 2003 veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen einer etwa 30-jährigen Frau, Anonyma, unter dem Titel: »Eine Frau in Berlin« machten dieses jahrzehntelang verschwiegene Thema öffentlich.
Genausowenig wurde darüber gesprochen, dass deutsche Wehrmachtsoldaten, Angehörige von SS und SA sowie Angehörige der Polizeibataillone gleichermaßen grausam gegen Mädchen und Frauen vorgegangen sind. »Die Forschung geht heute von ungefähr 10 Millionen Vergewaltigungen durch deutsche Männer allein auf russischem Boden« (Ustorf 2010, 109) aus.
»Möglicherweise sind die durch deutsche Soldaten begangenen Vergewaltigungen auch eine Erklärung dafür, dass viele deutsche Männer nach ihrer Rückkehr aus dem Krieg von den sexuellen Gewalterfahrungen ihrer Frauen und Töchter nichts wissen wollten... Die weitreichenden Folgen der sexuellen Gewalt für das Leben der eigenen Frauen und Töchter anzuerkennen, hätte das Selbstbild des anständigen deutschen Landsers vielleicht massiv erschüttert« (Ustorf 2010, 109). Sie erinnern sich vielleicht an die heftigen Diskussionen um die ›Wehrmachtsausstellung‹ (1995), die 1998 auch hier in Aachen zu sehen war, und in der das Bild der ›anständigen‹ und ›unschuldigen‹ Wehrmacht zurechtgerückt wurde.
»Das Schweigen der Ehemänner, die sexuelle Moral der 1950er-Jahre und die Kriegsschuld erschwerten eine Beschäftigung mit den traumatischen Erlebnissen der knapp 2 Millionen deutschen Vergewaltigungsopfer« (Ustorf 2010, 109). »Und auch die Frauen selbst schwiegen über erlittene Demütigungen- [vor allem] aus Scham« (Ustorf 2010, 109). »Forschungen zufolge leiden ungefähr 55 Prozent aller Vergewaltigungsopfer nach dem Ereignis an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Bei einem Drittel der Betroffenen bleibt die Störung lebenslang bestehen« (Ustorf 2010, 110). »In der geriatrischen Psychiatrie, den Pflegediensten und Altenheimen ist inzwischen bekannt, dass viele Depressionen, Schlafstörungen und Angstzustände älterer Patientinnen auf sexuelle Gewalttaten der Kriegs- und Nachkriegszeit zurückgehen« (Ustorf 2010, 110).
Einige Zeit nach Beginn der Psychotherapie mit der etwa 50jährigen Frau A. kommt es zu einem gemeinsamen Gespräch in meiner Praxis mit ihrem mittlerweile 80-jährigen Vater, der sie im Alter von 12 – 14 Jahren sexuell missbraucht hat. Im Verlaufe dieses Gespräches redet der Vater zum ersten Mal in seinem Leben davon, dass er selber – ungefähr im gleichen Alter - während seiner Evakuierung im II. Weltkrieg von einem Fremdarbeiter sexuell missbraucht worden ist.
13. Folgen für die Kriegskinder und Kriegsenkel
► Grafik: Folgen
Sowohl in den Psychotherapeutischen Behandlungen als auch in den wissenschaftlichen Untersuchungen geht es um die »seelischen Verwüstungen, die nachweislich mehr als ein halbes Jahrhundert später bei den ehemaligen Kriegskindern immer noch zum gehäuften Auftreten von psychosomatischen Erkrankungen, Ängsten und Beziehungsstörungen beitragen« (Franz 2006, 70). »Kriege versprühen ihr Gift weit über den Lebenszyklus direkt Betroffener in die Seele sehr viel später Geborener. Und manchmal erzeugen sie sogar generationsübergreifende Traumatisierungen«, schreibt der Psychiater Peter Heinl (1994, zit. n. Ustorf 2010, 24). Sie wirken seelisch so wie die Tretminen und nicht explodierten Streubomben oder andere Blindgänger, die noch nach Jahren oder Jahrzehnten ihre verheerende Wirkung entfalten können.
Ein Topos, der in den Berichten der Kriegskinder immer wieder auftaucht ist das lebenslange seelische Gezeichnetsein durch die Traumatisierungen: »Unbeschwertheit hat sich im Leben nie richtig eingestellt« (Lorenz 2003, S. 44, 136), ich war »nie mehr richtig unbeschwert« (Lorenz 2003, S. 234; Bode 2004, S. 114). »Das Ohnmachtsgefühl schmerzt sie heute noch« (Lorenz 2003, S. 59). »Noch immer hat die heute Zweiundsechzigjährige Angst, verloren zu gehen« (Lorenz 2003, S. 211). Anna B. bemerkt: »In mir ist oft so ein tiefes Gefühl von Verlorenheit« (Bode 2009, 274).
Die erwähnten seelischen Vorgänge in Verbindung mit der Sprachlosigkeit führten bei vielen Kriegskindern und deren Kindern zu einer Schwierigkeit, zwischen der Geschichte der Eltern und der eigenen Geschichte differenzieren zu können, also innerlich zu sagen: ›Das gehört zu mir‹ und ›das gehört zu Dir‹. Durch diese ›entlehnten‹ Belastungen waren viele in ihrer eigenen Lebensgestaltung stark beeinträchtigt (vgl. Ustorf 2010, 125).
Die französische Psychoanalytikerin Haydée Faimberg (1987) spricht in einem trefflichen Bild vom »Telescoping«, als einem unbewussten »Ineinanderrücken der Generationen«, sodass die notwendigen »Generationenschranken« (Lidz 1971) nicht mehr gewahrt sind.
Meine Eltern und ich, wir kennen uns eigentlich kaum“, diesen Satz hörte Anne Ustorf (2010, 91) bei der Recherche zu ihrem Buch über die »Kinder der Kriegskinder« immer wieder. »Meine Eltern wissen gar nicht, wer ich bin«, heißt es entsprechend bei Sabine Bode (2009, 17). »Ein Gefühl der Fremdheit scheint die Beziehung vieler 1955 bis 1975 Geborener zu ihren Eltern, den Kriegskindern zu charakterisieren« (Ustorf 2010, 91).
Nach Radebold (2008, 53) klagen die Kinder der Kriegskinder, also die ›Kriegsenkel‹ vor allem über folgende transgenerational weitergegebene Verhaltensweisen, Probleme und Konflikte:
- Ihre Eltern stellten eine sichere, verwöhnende, gewährende äußere Lebenssituation zur Verfügung.
- Ihre Kinder sollten auf jeden Fall in Frieden, sicher, verwöhnt und umsorgt aufwachsen.
- Diese Eltern waren jedoch kaum für die ›kleinen psychischen Probleme‹ ihrer Kinder in Kindheit und Adoleszenz ansprechbar.
Im unbewussten Vergleich mit ihrer eigenen damaligen Situation und Entwicklung erwarten sie als Eltern offenbar, dass ihre Kinder... damit selbst zurecht kämen und sie möglichst wenig damit behelligten.
Ustorf (2010, 13) spricht vom [deutlichen] „Widerspruch zwischen materieller Verwöhnung und psychischem Desinteresse“ (ähnlich: Bode 2009, 70).
- Weiterhin spürten die Kinder, dass es bei ihren Eltern ‚unbekannte, fremde, nicht erreichbare, gefühlsmäßige’ Erfahrungen gab, die unzugänglich blieben und kaum begreifbare, oft sogar skurril wirkende Verhaltensweisen.
- Ihre Eltern waren [darüber hinaus] meist und dazu oft lebenslang nicht in der Lage, über ihre zeitgeschichtlichen Erfahrungen zu sprechen“ (Radebold 2008, 53).
Wie oft hörten die Kriegsenkel: »Du weißt gar nicht, wie gut du es hast. Du weißt gar nicht, wie schlimm das damals war« (Bode 2009, 76, 149). »Was könnte in Friedenszeiten an das Leid von Kriegskindern heranreichen. Das ist das Dilemma, das ist die Tragik vieler Kinder der Kriegskinder« (Bode 2009, 142).
In der Folge sind die »Kinder der Kriegskinder... sich oftmals unsicher in ihren Gefühlen für sich selbst. Sie erleben ihr Leben wie aus zweiter Hand« (Ermann 2010, 333). Sie berichten über »unauflösbare Ängste und Blockaden« (Bode 2009, 13). Das mag ebenfalls einen Beitrag dazu leisten, dass die sechziger und siebziger Jahrgänge - also die ›Kriegsenkel‹ - maßgeblich an einem folgenreichen Phänomen beteiligt sind: nämlich der ›Kinderlosigkeit‹(Bode 2009, 20).
14. Wege aus der Sprachlosigkeit
► Grafik: Wege aus der Sprachlosigkeit
Eine alte jüdische Weisheit besagt: »Das Exil wird länger des Vergessens wegen, aber vom Erinnern kommt die Erlösung« (Baal Schem Tov, zit. n. Grünberg 1995, S. 4).
Um die Sprachlosigkeit zu überwinden bedarf es heilsamer Sprachräume, Sprachzeiten und Sprachgelegenheiten. Das kann und muss nicht immer eine Psychoanalyse oder Psychotherapie sein. Die »Erinnerung beginnt zu zweit« (Moeller u. Maaz 1991) oder in Gruppen, die über die Vergangenheit ins Gespräch kommen. Eine andere Möglichkeit, die uns Johannes Kube gezeigt hat, ist das Aufschreiben von Erinnerungen. Meine Mutter hat das vor ihrem Lebensende getan und ich weiß es auch von vielen anderen ihrer Generation.
► Grafik: Kube
Anja, eine der Sabine Bode (2009, 171) Interviewten sagt: »Ich weiß, dass die Schatten sich verflüchtigen, wenn sie ans Tageslicht kommen«.
Entsprechend bemüht sich die Psychoanalyse als Therapie darum, den Menschen auch um seine verdrängte und »vergessene« eigene Geschichte zu bereichern. Das Aneignen der eigenen Geschichte ist unter anderem die Voraussetzung für eine konstruktivere, weniger schuldbeladene und belastete Gestaltung der Zukunft (vgl. Auchter 1996, S. 111). Oder wie es der amerikanische Philosoph George Santayana negativ formulierte: »Wer seine Geschichte verleugnet, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen«. Ein Problem unbearbeiteter und unbewältigter Traumatisierungen ist, dass sie unbewusst zu einer ›Reinszenierung‹ drängen, um doch noch zu einer ›Lösung‹ zu gelangen. Schon Friedrich Schiller formulierte in seinem Kriegsdrama »Die Piccolomini«: »Das ist eben der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend immer Böses muss gebären«. Oder Peter Heinl (1997, 34) knapp: »dass Krieg nur wieder Krieg ausbrütet«.
► Grafik: 14. Wege aus der Sprachlosigkeit
Eine jüdische Überlebende sagt zu der Autorin Sonya Winterberg: »Die traumatischen Erlebnisse, die eine Generation nicht aufarbeitet, werden an die nächste Generation weitergegeben. Es ist an Dir, diesen Kreislauf zu durchbrechen« (Winterberg u. Winterberg 2009, 8). Welche Möglichkeiten gibt es, den Teufelskreis der »Last des Schweigens« (Dan Bar-On 1993) zu durchbrechen?
Wir wissen aus unseren psychoanalytischen Behandlungen wie hilfreich das Erinnern (Auchter 2004), das Erzählen der eigenen Geschichte sein kann. Im Prozess des Sprechens über die eigene Vergangenheit (die ›Re-Konstruktion‹) wird es unter anderem möglich »traumatische Bruchstücke zu einem ›vollständigen‹ Narrativ zu verknüpfen, zu gedenken und zu bewahren« (Durst 32010, 294). Und damit im besten Fall zu einer neuen Form der Selbstkohärenz und Kontinuität der Identität zu gelangen.
Erst eine Rekonstruktion zum Beispiel im Rahmen einer Psychotherapie vermag zum Beispiel unbewusste ›Delegationen‹ aufzuklären und damit ›Befreiung‹ von solchen transgenerationalen Bürden und Lasten beitragen. Haydée Faimberg (1987, 128) nennt das »historicisation«, »Geschichtswerdung«, mit anderen Worten dass die Vergangenheit wirklich ›vergangen‹ werden kann!
»Die Eltern zu erlösen, das war meine Aufgabe« vermerkt Gerhard, einer von Ustorfs (2010, 143) Gesprächspartnern. Erst eine Psychotherapie half ihm, unterscheiden zu lernen, welche Ängste und Schwierigkeiten seine eigenen waren und welche er von seinen Eltern übernommen hatte. Der Psychoanalytiker Bertram von der Stein (2008, 190) spricht hierfür – ähnlich wie Faimberg (1987, 128) von der »heilsamen Ent-Identifizierung«. »Wenn das Trauma der Eltern unerkannt, unbenannt und unbesprochen bleibt«, schreibt die Psychologin Dagmar Soerensen-Cassirer (2004, 138), »kann es von den Kindern nicht ›geortet‹, verbalisiert und symbolisiert werden. Somit bleiben die Generationengrenzen durchlässig«.
»Oft erlösend wirkt [darüber hinaus] im psychoanalytischen Prozess, wenn die bis dahin gehassten Eltern von den Patienten auch als Opfer und Kinder ihrer Zeit verstanden werden können und sich dann ein anderer Zugang zu ihnen ergibt. Zugang heißt nicht: [Geschichts]Klitterung, sondern Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit den inneren Objekten« (Seidler 2004, 167).
Auf dem Wege der Erinnerung und des Bewusstwerdens wird dann im besten Fall auch eine ›Versöhnung mit sich selbst‹ möglicher. »Ohne Erinnerungsarbeit gibt es kein Gefühl der Kontinuität des eigenen Lebens; ohne diese gibt es keine positive Identität«, schreiben Michael Ermann und Christa Müller (2006, 68). Und Christa Wolf (1994, S. 108) vermerkt in ihren Buch »Was bleibt«: »Dass es kein Unglück gibt außer dem, nicht zu leben. Und am Ende keine Verzweiflung außer der, nicht gelebt zu haben«. Ich komme zum Schluss.
15. Ausblick
Vielleicht ist durch meine Ausführungen deutlich geworden, dass, wie Michael Ermann (2004, 230) formuliert, Kriegskindheit und Kriegsenkelschaft ein »Phänomen mit vielen Varianten« ist. »Wir werden uns mit dem Gedanken vertraut machen müssen«, schreibt Peter Heinl (2006, 229), »dass das, was ursprünglich als ›Tausendjähriges Reich‹ konzipiert war, uns nicht in seiner Herrschaftsform, aber in der apokalyptischen Dimension seiner Zerstörung noch über Jahrhunderte begleiten wird, wenn nicht gar tausend Jahre«.
Michael Ermann (2004, 239) resümiert seine Ausführungen, und damit will auch ich hier schließen, mit der Erkenntnis, „dass ein jeder Krieg, egal zwischen wem und wo er stattfindet, immer ein generationenübergreifendes, psychosoziales Inferno darstellt: Überall auf der Welt zerbrechen Kriegstraumatisierungen die Seelen – die Seelen der Großeltern, der Eltern und der Kinder“. „Krieg hat... überall die gleichen Wirkungen und Folgen. Er schlägt unheilbare Wunden. Und weil das Leben an ihnen zerbrechen kann, darf er kein Mittel der Politik sein“.
Ich danke Ihnen für Ihre geduldige Aufmerksamkeit!
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Autorenbeschreibung:
Thomas Auchter, Jahrgang 1948, Diplompsychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker (DPV, IPA, DGPT), Gruppenanalytiker (AG im DAGG), niedergelassen in freier Praxis in Aachen, Dozent und Lehrtherapeut der Psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft Köln-Düsseldorf (DPV), Mitveranstalter und Mitherausgeber der Reihe „Theologie und Psychologie im Dialog“. Zahlreiche Publikationen unter anderem zur angewandten Psychoanalyse, zum Werk von Donald W. Winnicott, zu Fragen von Gewalt und Aggression.
Anschrift:
Dipl. Psych. Thomas Auchter
Lütticher Straße 281
D – 52074 Aachen
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