Krönender Abschluss der 15. Aachener Friedenstage – 13. April 2014
Andreas Grude: „Wort ist König und Zauberer zugleich“
Der Rezitator Andreas Grude sprach, sang, hauchte, schrie, hüstelte, wedelte und tauchte mit den Besucher*innen der Annakirche in die Ideenwelt deutscher Dichter, Denker und Philosophen ein. Mit aufklärenden Kommentaren und mannigfachem Geschichtswissen erhielten Gäste, Veranstalter*innen und Organisator*innen bezaubernden Unterricht zur Lage der Nation.
Ein poetischer Parforceritt am Horizont der Jahrhunderte: Komisch, bissig, traurig, witzig, immer einfühlsam, und frei von jeglicher Überheblichkeit hauchte der Rezitator Goethe wieder Leben ein, stürmte und drängte mit ihm gemeinsam zu Orpheus … Bedecke deinen Himmel, Zeus, mit Wolkendunst …, ließ Bettina Wegener über die Unmöglichkeit der Gewaltlosigkeit reflektieren, die Zuhörer*innen mit Wolf Biermann an der Spreebrücke Gedanken von Flucht und Heimat auf das Wasser schreiben und mit Tucholsky leichtzüngig berlinerisch politisieren.
Das dunkle Mittelalter wurde plötzlich beängstigend transparent: Unterdrückung, Folter, Pranger, Kriege, Hunger, Elend, Hexenwahn und Ketzerverbrennungen, die „Heilige Inquisition“ verfolgte über Jahrhunderte selbstständig denkende Menschen, die, mit Verstand und eigenem Willen vom Leben gesegnet, keine Überlebenschance hatten. Für diese Abtrünnigen gab es kein Erbarmen bei Bischöfen, Päpsten, Herzögen, Fürsten und der ganzen herrschenden Adels-Mischpoke.
Durch Andreas Grude gab Ferdinand Freiligrath Auskunft über die archaisch anmutenden alltäglichen menschenverachtenden „Selbstverständlichkeiten“, auch über Martin Luthers Lebensmotto: „Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang bleibt ein armer Tropf sein Leben lang“ und damit über die Frauenrolle im Mittelalter dürfen die Besucher*innen bei vorausgesetztem Interesse weiter denken.
Keine Frage, Lyrik und Poesie sind eindeutig politisch, nicht nur in Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse und deren Analyse; nein, auch und gerade in der Darstellung von Liebe und Verliebtheit, denn Politik ist die Kunst des menschlichen Zusammenlebens, und darin spielen die Triebkräfte Liebe Tod und Macht eine Hauptrolle.
Zum Abschluss besuchte der Rezitator Heinrich Heine in seiner Bettengruft in Paris und brachte von dort das Gedicht „Die Wahlesel“ mit, das wir hier einer größeren Leserschaft als kristallklar gesäuberten Spiegel anbieten möchten!
Heinrich Heine
Die Wahlesel
Die Freiheit hat man satt am End,
und die Republik der Tiere
begehrte, dass ein einziger Regent
sie absolut regiere.
Jedwede Tiergattung versammelte sich,
Wahlzettel wurden geschrieben;
Parteisucht wütete fürchterlich,
Intrigen wurden getrieben.
Das Komitee der Esel ward
von Alt-Langohren regieret;
sie hatten die Köpfe mit einer Kokard,
die schwarz-rot-gold verzieret.
Es gab eine kleine Pferdepartei,
doch wagte sie nicht zu stimmen;
sie hatte Angst vor dem Geschrei
der Alt-Langohren, der grimmen.
Als einer jedoch die Kandidatur
des Rosses empfahl, mit Zeter
ein Alt-Langohr in die Rede ihm fuhr,
und schrie: Du bist ein Verräter!
Du bist ein Verräter, es fließt in dir
kein Tropfen vom Eselsblute;
du bist kein Esel, ich glaube schier,
dich warf eine welsche Stute.
Du stammst vom Zebra vielleicht, die Haut
sie ist gestreift zebräisch;
auch deiner Stimme näselnder Laut
klingt ziemlich ägyptisch-hebräisch.
Und wärst du kein Fremdling, so bist du doch nur
Verstandesesel, ein kalter;
du kennst nicht die Tiefen der Eselsnatur,
dir klingt nicht ihr mystischer Psalter.
Ich aber versenkte die Seele ganz
in jenes süße Gedösel;
ich bin ein Esel, in meinem Schwanz
ist jedes Haar ein Esel.
Ich bin kein Römling, ich bin kein Slav;
ein deutscher Esel bin ich,
gleich meinen Vätern. Sie waren so brav,
so pflanzenwüchsig, so sinnig.
Sie spielten nicht mit Galanterei
frivole Lasterspiele;
sie trabten täglich, frisch-fromm-fröhlich-frei,
mit ihren Säcken zu Mühle.
Die Väter sind nicht tot! Im Grab
nur ihre Häute liegen,
die sterblichen Hüllen. Vom Himmel herab
schaun sie auf uns mit Vergnügen.
Verklärte Esel im Gloria-Licht!
Wir wollen euch immer gleichen
und niemals von dem Pfad der Pflicht
nur einen Fingerbreit weichen.
O welche Wonne, ein Esel zu sein!
Ein Enkel von solchen Langohren!
Ich möchte es von allen Dächern schrein:
ich bin als ein Esel geboren.
Der große Esel, der mich erzeugt,
es war von deutschem Stamme;
mit deutscher Eselsmilch gesäugt
hat mich die Mutter, die Mamme.
Ich bin ein Esel, und will getreu,
wie meine Väter, die Alten,
an der alten, lieben Eselei,
am Eseltume halten.
Und weil ich ein Esel, so rat ich euch,
den Esel zum König zu wählen;
wir stiften das große Eselreich,
wo nur die Esel befehlen.
Wir sind alle Esel! I-A! I-A!
Wir sind keine Pferdeknechte.
Fort mit den Rosen! Es lebe hurra!
Der König vom Eselsgeschlechte!
So sprach der Patriot. Im Saal
die Esel Beifall rufen.
Sie waren alle national,
und stampften mit den Hufen.
Sie haben des Redners Haupt geschmückt
mit einem Eichenkranze.
Er dankte stumm, und hochbeglückt
wedelt er mit dem Schwanze.
Was will der Dichter uns sagen?
Tja, mit dieser Frage sind wir führerlos und ohne Antwort hineingeworfen in die kalte Existenz und auf uns selbst verwiesen, zur Reflexion und Erkenntnis politisch-gesellschaftlicher Zusammenhänge verdammt. Wollen wir uns nicht aus Bequemlichkeit und Trägheit dem betörenden Glanz der Dummheit preisgeben, spüren wir den Dichtern und Denkern auf ihrem Weg nach und erstellen persönliche Bilder und verdichtete Ideen in den eigenen Köpfen.
Karl Heinz Otten dankt Andreas Grude ihm Namen des Euregioprojekts Frieden
Lieber Andreas Grude, das Euregioprojekt Frieden und das Evangelische Erwachsenenbildungswerk Aachen danken von Herzen für diesen bezaubernd lehrreichen Abend!
Text: Veronika Thomas-Ohst
Fotos: Klaus Franke